Technologie und Medienrealisation in Film und Video
Locarno 2016 | Festivalbericht    Ausgabe 09-10/16

Anpassungs-Unwillige

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Zeichen der Zeit waren in Locarno unübersehbar, Fragen der Zeit ebenfalls unüberhörbar. Christine und Philippe Dériaz lauschten diesem Puls der Zeit, wie er auf der Leinwand schlägt.

 

Sehr feierlich wurde im Juni der Basistunnel unter dem Gotthard eingeweiht, aber die Festivalbesucher werden das Bauwerk erst im nächsten Jahr befahren: es ist noch nicht in Betrieb! Dafür konnte man als Vorspeise auf der Piazza Grande vor den schweizerischen, deutschen, ­österreichischen Fernsehzuschauern das dicke Filmwerk »Gotthard« bestaunen – die Begeisterung blieb allerdings in einem höflichen Rahmen. Die Produktion hatte keine Anstrengungen gescheut, um die Zustände und die Baustelle im 19. Jahrhundert darzustellen: das allein genügt leider nicht. Ab der Mitte verwickelt, verirrt und verliert sich die Erzählung, genau so wie die Glaub­würdigkeit. Auch das Problem der Sprachen­mischung ist ungenügend gelöst (das Ergebnis taugt gerade für deutsche Stuben). In drei TV-­Raten serviert ist das Werk von Urs Egger vermutlich bekömmlicher.

Die Aktualität brachte auch ungewohnte ­Sicherheitsmaßnahmen, wie Taschendurch­suchungen an jedem Eingang, und eine sichtbare Polizeianwesenheit; doch alles verlief friedlich. Weiteres Zeichen der Zeit: der französische Film »Le ciel attendra«. Das ist eine fällige, jedoch ­ärgerliche Auseinandersetzung mit dem islamis­tischen ­Terrorismus in weiblicher Gestalt; diese Mädchen suchen sich selbst: wie werden sie zum Fundamentalismus verführt, wie versucht man, sie zurückzuholen? Es steht Predigt gegen Predigt – und ein Spielfilm hat nie etwas »bewiesen«, außer das Talent seiner Macher. Marie-Castille Mention-Schaar erzählt zwei Geschichten im ­Gegenlauf, deutet sehr geschickt die Ungleichheit der Zeiten an; die Verfilmung ist sonst gängig. Die Piazza blieb ruhig.

Mit einem Zombiefilm auf der Piazza Grande zu eröffnen, klingt zunächst nach einem gewagten Unterfangen, immerhin sind die abendlichen Vorstellungen auch immer ein wenig Familien­unterhaltung. Aber »The girl with all the gifts« von Colm McCarthy fällt dann doch relativ wenig schockierend aus, auch wenn einige Zuschauer bei den ersten Zombieattacken die Piazza verließen. Vor dem Hintergrund einer dystopischen ­Zukunft, in der geistlose Zombies die Welt bevölkern und einige wenige »nichtinfizierte« Menschen in einem Hochsicherheitsareal verschanzt nach einer – medizinischen – Lösung des Problems forschen, verhandelt der Film die Selbstfindung eines Zombiemädchens. Eingesperrt und behandelt wie Schwerstverbrecher fristen Kinder, die zweite Generation Zombies, das Dasein von Versuchskaninchen. Diese Kinder sind keine dumpfen Fressmaschinen, weshalb die hoch­begabte Melanie immer wieder Fragen nach dem »wer bin ich?« stellt, aber auch nach der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, und stellt auch die philosophische Frage, wieso sie sich opfern soll, wenn doch die »normalen« Menschen längst dem Untergang entgegensehen.


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